Nach dem Essen erkundigt Melanippe sich nach Adonis Befinden: Hast du Lust, etwas aus der Geschichte der Amazones zu hören? Oder bist du lieber ein wenig allein?   
Er bittet Perithymone, ihn mitzunehmen. Dabei bekommt Melanippe mit, wie ihm entfährt: Warum hast du nur so einen langen Namen!  

 Marpesias Geschichten scheinen sehr beliebt. Fast alle müssen sich versammelt haben und warten ganz still auf den Beginn: Vor langer Zeit lebte unser Volk noch nicht hier in Themiskyra, sondern sehr viel weiter dem Sonnenaufgang zu. Die alten Sagen berichten, daß das Land noch grüner war, als unsere schönen Wälder hier. Hier sorgen die Bäume mit ihrem Schatten für ein angenehmes Klima. Doch in jener Region trieb die Sonne alle Lebewesen unter das schützende Blätterdach. Das Buschwerk war oft so dicht, daß man kaum hindurchdringen konnte. Darin gab es Bäume, deren Stämme ganz anders waren als hier. Könnt ihr euch hohle Stämme vorstellen? Vom Schilfrohr wißt ihr, daß Röhren sehr leicht aber sehr robust sind. Solche Stämme nahmen unsere Vorfahren als Gerüst, um darauf ihre Häuser zu bauen. So lebten die Menschen in ihren Hütten über dem Fluß, wenn der, wie oft, über das Ufer trat. Auch die Häuser wurden aus diesen Bäumen errichtet. Deren Wände wurden aus Blättern geflochten. Die ließen immer einen leichten Wind durch die Räume wehen. So wurde auch die größte Hitze erträglich. 

 Heute scheint Marpesias Erzählung die Phantasie ihrer Zuhörer sehr zu beschäftigen. Sie macht eine kleine Pause, um dem Neuen das “Sacken” zu erleichtern: Kalte Jahreszeiten, wie bei uns hier in Themiskyra, kannte man dort nicht. Es war eigentlich immer Sommer. Nur manchmal fiel noch mehr Regen. Die Gegend, in der unsere Dörfer lagen, lieferte das ganze Jahr reiche Ernten. Und der Fluß quoll über vor Fischen. Man konnte sie fast mit der Hand von der Hütte oder vom Kanu aus greifen. In den Feldern und Gärten um die Dörfer herum gedieh Gemüse und Reis. Unsere Vorfahren mußten nicht einmal den Boden umgraben. Das machten die Büffel. 

 Adonis hatte die Tiere auch hier gesehen. Sie glichen den Stieren seiner Heimat, waren nur unendlich viel sanftmütiger. Er hatte sie vor Augen, als Marpesia erzählte: Man sie trieb über das Feld. Wo sie hin traten, war der Boden gut zu bearbeiten. Es gab auch merkwürdig kleine Tiere, die Menschen ähnelten. Die waren mit Händen und Füßen gleichermaßen geschickt. Sie nahmen sich, was sie nur greifen konnten und schlüpften kreischend durch die Büsche. Bald darauf hangelten sie unerreichbar an den Ästen der höchsten Bäume entlang. Es ist nicht verwunderlich, wenn dieses Paradies auch andere reizte. Wir wurden von einem Heer überrascht, das mit brachialer Gewalt eindrang. Die Angreifer brachten um, was ihnen begegnete. Unsere friedliche Gemeinschaft hatte durch langen Frieden das Verteidigen fast verlernt. Doch unserer jungen Königin Ly si pe gelang es trotz alledem, den Rest unseres Volks zu retten. Was mit den anderen geschah, ist nicht überliefert. Wer kann das Massaker schon überlebt haben? Niemand von uns traute sich je zurück. Auf der Flucht wurde erzählt, um die Hoffnung zu erhalten. Auf die Dauer ging das Wissen über unsere Geschichte verloren. Unsere Herkunft beschäftigte uns erst wieder, als wir nicht mehr auf der Flucht waren. Ich hoffe, ihr könnt trotz aller Schrecken gut schlafen. Träumt nur Schönes von dem fernen Land, aus dem wir einst kamen. 

 Aus Einigen, die die Sage zum ersten Male hören, platzt heraus: Der Name der Königin klingt nach Lysippe!   
– Lysippe ist unsere Urmutter!   
– Nun trägt eine junge Königin in einem unbekannten Land den gleichen Namen!   
Marpesia freut sich über die Neugier: Es ist die gleiche Frau. Aus Ly si pe wurde Lysippe. Von ihr gibt es noch so viel zu erzählen. Mit ihr kamen wir in viele Länder. Was wir erlebten, kann man sich kaum vorzustellen! 

 Der lange Tage ließ Müdigkeit aufkommen. Das hielt von weiteren Fragen ab, bis auf eine: Wo wir herkamen, lebten wir da auch am Meer?   
Marpesia erinnert die Frage an ihren Gast: Es heißt, wir waren die Phoinikes jener Welt. Fast alle Männer waren mit ihren Booten auf dem Meer unterwegs. Sie waren immer nur kurz Zuhause. Deshalb haben wir auch eine Königin.   
Peri beweist trotz Müdigkeit ihr Einfühlvermögen: Unsere Seefahrer müssen unglücklich gewesen sein, als sie zurück kehrten. Kein liebevoller Empfang, nur verwüstete Dörfer!   
Die sonst Nimmermüde ist schläfriger, als sie je zugeben würde. Nun zieht sie mit glänzenden Augen Träumen entgegen, denen der lange Tag Stoff lieferte. Davon hatten sie mehr, als für eine ruhige Nacht förderlich war. 

 Marpesia und Melanippe warten neugierig auf Adonis’ Eindrücke. Aus dem aufgewühlten Mann quillt heraus: Phönizier des Ostens lassen Verwandtes vermuten. Doch die Kinder, mit denen ich den Tag verbracht habe, weichen von allem ab, was ich kenne. Seit ich gehört habe, wie eure Ahnen aus einem Paradies vertrieben wurden, ahne ich, warum mich eure Kinder staunen lassen. Es ist unglaublich, wie sie Körper und Pferd beherrschen. Ich muß noch viel lernen, ehe ich mich so einfühlen und anpassen kann.   
Marpesias Antwort überrascht ihn noch mehr. Sie spricht mit ihm in einer ihm unbekannten Sprache. Melanippe lächelt über die Hilflosigkeit, die sein Gesicht spiegelt: Du hast jetzt den ersten Unterricht in der Sprache der Ferghaniais. Ich übersetze: “Das ist eine lange Geschichte.” Kannst du Marpesia nachsprechen?   
Seine Lehrerin wiederholt langsam ihren Satz. Nach einigen Korrekturen hat Adonis den Tonfall heraus. Melanippe glaubt an seine Sprachbegabung und an rasche Lernerfolge.  

 Marpesia ergänzt: Bei deiner Auffassungsgabe, könnten wir beiden mit einander nur noch in der Sprache der Ferghaniais sprechen. Für die Grundlagen und alle anderen Dinge, die du für deine Reise brauchst, begleitest du am besten Perithymone.   
Eine komische Verzweiflung flackert in Adonis Blick: Ich habe von den Kindern viel gelernt. Aber ich kann das Mädchen doch nicht dauernd belagern!   
Melanippe freut sich über sein Mitgefühl: Du hast vom Anpassen gesprochen. Sie wird stolz sein, wenn es ihr gelingt, zwischen dir und ihrem Alltag zu vermitteln.   
In Marpesias Ausschnitt erinnert ein Zipfel ihres Tuchs an sein Ziel und läßt Adonis nicken: Kinder lernen schnell. Nach meinen Erlebnissen heute hoffe ich, euer Nachwuchs färbt ein bißchen auf mich ab. Sorgt bitte dafür, daß ich der neuen Sprache nicht ausweiche!  

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